beinloser Flügel

Der einzig bewohnbare Raum im Keller der Schule war winzig, sein stinkender Kohleofen launisch. Er tat es nur, wenn ihm danach war.

Die Mutter riss das Fenster auf, wie so oft seit dem Tag, als im hauseigenen Krater nur der schwarze Flügel überlebt hatte - ohne Beine. In diesem Moment befiel sie diese fliegende Hitze, die sie von nun an mit dem Frost bekämpfte, den sie immer dann hereinbat.

Der Vater wurde an einer Linie gebraucht, wie viele andere Männer zu der Zeit, dabei war er nicht mehr der Jüngste. Seine Jüngste malte immer wieder diese Linie in ihr Schulheft, einmal in blau, dann auch in anderen Farben, je nachdem welche Stifte es gerade im Tante-Emma-Laden gab. Die Schule fiel sowieso aus, denn sie lebten ja jetzt dort.

Wie laut die Tiefflieger zielten, mitten ins Kinderherz, besonders bei offenem Fenster!

Am anderen Ende des Ganges gab es eine Toilette für fünf Geschwister und die Mutter. Dort saß seit gestern Abend ein Blindgänger fest, als hätte er Verstopfung. Ein weiterer hatte vor einiger Zeit das Schuldach durchschlagen und steckte fortan in dem Stuhl, auf dem zwei Minuten zuvor der älteste Bruder trotz des nicht endenden Alarms unbedingt seine Suppe auslöffeln wollte. Zum Glück gab es an diesem Tag nur noch einen überschaubaren Rest von gestern.

Zitternde Hände und kein Vater, der sie hielt, wenn der Lärm am schlimmsten war.

Keine Geschichte bei Abendrot zum Fest des ersten Schnees. Frau Holle backte nicht mehr, es fehlten Butter und Eier.

Wann hört ihr auf zu schwitzen, damit die Kinder nicht frieren?

Wie viele Häute müssen sie anziehen, um nicht zu spüren, wie sehr...

(©IW, 2023)

das schwarze Loch

Ein Granitblock liegt auf ihrer Zunge, wenn du sie fragst, warum Clara gelähmt ist.

Nicht weil der Grund für diese Einschränkung in diesem Fall so schwer wiegt, sondern dein Nichtwissen.

Auch nach ihrer Antwort, der 54. Auflage, wird es nicht kleiner.

Wie ein nimmersattes, schwarzes Loch frisst es sich durch dein Überall.

Wo bleiben ihre Worte, da du dich an deren Licht verschluckst?

Wenn morgen dann deine harmlose Frage auf ihrer Zunge wieder als Meteorit einschlägt:

Warum ist Clara eigentlich gelähmt?

(©IW, 2023)

inständig

Morgens, sofort nach dem Aufstehen, kleidet sie ihr zweites Ich an, das Regenmantel-Ich mit der gummierten Haut und den aufgesteppten Seitentaschen. Darin klimpern all die Sätze, die sie gestern mit D. verstreut hat, vorgestern dieselben und davor auch. Wenn D. abends zu Bett gegangen ist, schleicht sie jedes Mal durchs Haus und liest ihre Sätze überall vom Boden auf, kehrt verirrte Gefühle zusammen.

Auf diese Weise hat sie am nächsten Tag jederzeit die passenden Worte zur Hand, pflegeleicht, denn sie werden nötig sein in den vielen Momenten, wo D. erstaunt fragt, warum es heute regnet und nicht schneit (im Juli in unseren Breiten!), und welches Jahr wir haben, oder so. Meistens erstaunt, manchmal verunsichert. Sie auch, vor allem anfangs, aber aus anderen Gründen.

Mit den Sätzen in den Taschen ist sie nun vorbereitet auf das, was gesagt werden muss, obwohl sie selbst jede Nebensächlichkeit schon in- und auswendig kennt wie ein Schauspieler, der seinen Text im Schlaf kann.

Sie hofft inständig, dass ihr Regenmantel-Ich mithilft, möglichst nicht zu oft aus der untersten Haut zu fahren - von dort aus, wo alles tief geht und tiefer. Aber sie ist auch nur ein Mensch.

Täglich wird das Gummi durch diese Beanspruchung poröser. Sie weiß nicht, wie lange es noch hält.

Auch an diesem Morgen steht sie auf und hofft, dass...

(©IW, 2022)

Il n'y a pas d'amour heureux.

Während sie so dasitzt, laut denkt und Fragen stellt, höre ich meinen eigenen Antworten zu, den immer gleichen, als hätte eine ihrer vielen Schallplatten eine Fissur.

Früher hörte sie gern Schubert: "Die Winterreise", "Der Tod und das Mädchen" und andere Streichquartette, sein Streichquintett in C-Dur, nicht zu vergessen die Sinfonien, vor allem "Die Unvollendete" in h-Moll. Jetzt vollende ich oft ihre Sätze.

Können auch Worte mit der Zeit einen Sprung bekommen, sodass die Tonnadel der Gedanken daran hängen bleibt? Wieder und wieder....nicht darüber hinwegkommt? Ich bin schon ganz taub von dieser kreiselnden Rille, obwohl ich längst viel besser höre als sie.

Niemand kann etwas dafür. Wir beide lieben Musik gleichermaßen. Zu selten musizierten wir gemeinsam, sie auf der Geige, ich am Klavier. Wenn, dann am liebsten Bach.

Für ihren Abschied wünscht sie sich Georges Brassens: "Il n'y a pas d'amour heureux."

(©IW, 2022)

Altbau

Ich schrecke hoch.

Es dürfte wohl so gegen 6 Uhr sein, genau weiß ich es nicht.

Hatte es geklingelt?

Ich tappe durch den langen, schmalen Flur der Altbauwohnung, greife zum Hörer der Gegensprechanlage des 5-stöckigen Hauses und wähle die Nummer der Concierge.

"Ja, bitte?" - Ich zucke zusammen.

Am anderen Ende eine mir vertraute Frauenstimme, es ist die meiner verstorbenen Tante.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie schlecht diese mit dem Rollstuhl zurechtkam; nach ihrer alles verändernden Operation.

"Gila, bist du es? Was machst du hier in der Leitung?!"

"Mein Bett ist ganz nass. Schon wieder! Ich glaube, es geht allmählich kaputt."

Kurze Pause. Verwirrung.

Um Fassung bemüht, antworte ich: "Oh weh, das tut mir leid." Meine Stimme zittert kaum wahrnehmbar, als ich fortfahre:

"Es ist einfach nicht möglich, dass wir gerade telefonieren. Ich nutze die Haussprechanlage, vermutlich kann sogar jeder Passant auf der Straße mithören. Es ist besser, wir legen auf. Soll ich runterkommen? Kann ich dir irgendwie helfen?"

Schweigen.

(©IW, 2022)

Dienstag

11:52  Was essen wir morgen?

            Draußen tickt der Regen monoton gegen das Gehäuse.

             Dicke Bohnen mit Speck, die du so liebst.

11:53  Was essen wir eigentlich morgen?

            Im Kühlschrank: Dein Autoschlüssel neben den Bohnen.

             Ich hänge ihn zurück ans Schlüsselbrett in der Diele.

Es ist fünf vor 12.

Du solltest nicht mehr Auto fahren.

Warum das denn?

Heute werde ich nicht laut. Manchmal schon, und schäme mich dafür.

Übrigens: Morgen gibt es dicke Bohnen mit Speck.

Die liebst du doch so.

(©IW, 2021)

nach der Flut

Für einige Stunden hat sich das Meer so weit zurückgezogen, bis es nur noch eine schmale Linie auf der X-Achse bildet und es unmöglich scheint zu glauben, es kehre jemals zurück. Verschnaufpause für die Sandkörner im unerbittlichen Prozess des Zerriebenwerdens. Offenherzig ahmen sie jetzt die Wellen nach, die sie eben noch rastlos um und um spülten.
Muschelhälften säumen ein Schaumkleid, auf den Strand gestickt, das in der Sonne schillert wie bunte Pailletten. Staunende Kinderhände machen es zu wertvollem Geschmeide und geduldige Eltern zu gekrönten Häuptern. Sie leben in Sandburgen und verraten nicht, dass der Sand zwischen den Fingern ihrer Kinder ebenso zerrinnen wird wie die Zeit, die auch die Muscheln in leere Hälften teilte. Nach der Flut wird kein Sandkorn mehr dort liegen wie zuvor.
(©IW, 2017)

Raumzeitkrümmung

Verspätet wirft das letzte Licht der Jahre verlängerte Schatten unter ihre Augen.

Ihr Rücken ertrug viel, verweigert sich noch sich zu krümmen, wie die Raumzeit das längst tut (seit Einstein weiß das jedes Kind). Inzwischen tragen die Päckchen andere für sie. Verschämt, dankbar auch, huscht dann ein Lächeln durch ihre Augen, die sich schneller als früher der Schläfrigkeit überlassen. Wach ist sie vor allem nachts, als gelte es, dem Schlaf zu entfliehen.

In der Dunkelheit denkt sie an die dunkle Zeit und an das Danach, das es vermutlich nicht gibt.

Im Winter beschwert sich immer ihr Ischias.

(©IW, 2018)